Kabisköpfen auf der Spur

Gärprozesse und gesellige Traditionen im Berner Gürbetal

Sauerkraut sei so alt wie die Menschheit, seit diese Ackerbau betreibe. Das berichten historisierende Gastronomen, denen vergorener Kabis den Gaumen entzückt. Schon Chinesen, Tataren, Griechen und Römer sollen sich an Kohlpflanzen verlustiert haben, die sie zuvor ins Salzbad gelegt hatten. Seefahrern diente das saure Gericht auf ihren Fahrten ins Ungewisse als vitaminreiches Antidot gegen Skorbut. Heute wird die deutsche Küche oft mit veredeltem Kraut in Verbindung gebracht. Doch nicht nur bei unseren nördlichen Nachbarn gilt, was weiland Pfarrer Sebastian Kneipp in seinem Repertoire der Heilmethoden zu Papier brachte: «Sauerkraut ist ein richtiger Besen für Magen und Darm, nimmt die schlechten Säfte und Gase fort, stärkt die Nerven und fördert die Blutbildung.»

Von der Zähmung der Gürbe . . .

Ziehen wir den Kreis enger. Der Schweizer Küche ist Sauerkraut durchaus nicht fremd. Wenn die Landgasthöfe der Ostschweiz an nebelverhangenen Herbsttagen zur währschaften Metzgete laden, greifen die Westschweizer nicht minder herzhaft zur Choucroute. Zwischen Ost und West wird die Berner Platte aufgetragen; auch hier handelt es sich bekanntlich nicht um magere Kost. Als kulinarisches Fundament dient allerorten der Kabis. Er regt mit seinem unverkennbaren Duft den Appetit an und verströmt jenes Ambiente, das man Gemütlichkeit nennt. Im Berner Gürbetal ist Sauerkraut mehr als eine Tafelfreude. Der liebliche Landstrich, der sich vom Belpmoos parallel zur Aare gegen das Oberland hinzieht, ist seit Generationen auf dieses Ackerbauprodukt abonniert. Wann die Bauern begannen, Kabis anzupflanzen, ist nicht schlüssig zu beantworten. Man behilft sich mit einem Hinweis auf Jeremias Gotthelf, der anno 1844 in seinen Kalendergeschichten die Berner Kabinettsköpfe boshaft mit Gürbetaler Kabisköpfen verglich. Damals gurgelte die Gürbe allerdings noch ungezähmt aus der Gurnigelregion zu Tal. Wüste Überschwemmungen gehörten zum Alltag, der Ertrag im Talboden zwischen Wattenwil und Belp war entsprechend kärglich. Erst als nach Mitte des 19. Jahrhunderts die Zähmung der Gürbe spruchreif wurde, konnte der humusreiche Grund flächendeckend urbar gemacht werden. Das bläuliche Grün der Kabisfelder entwickelte sich zum jährlich wiederkehrenden Kennzeichen der Gegend. Die Sauerkrautindustrie fasste Fuss.

. . . zum Kabisland

Die Landwirtschaft behauptet sich im Gürbetal besser als andernorts. Das gilt auch für den Anbau von Weisskohl. Rund die Hälfte der stattlichen Kabisköpfe, die in Schweizer Gärbottichen zu Sauerkraut mutieren, wachsen hier heran. Darauf hat der Volksmund Bezug genommen. Eingesessene Gürbetaler nennen ihren Landstrich liebevoll Kabisland. Das hätte Madame de Meuron zu Lebzeiten zweifellos bestätigt. Die ungekrönte Königin der Schweizer Originale konnte von ihrem Schloss Rümligen herab weite Teile des Talgrunds überblicken - sofern sie nicht gerade damit beschäftigt war, sich in ihren Stadtberner Immeubles (mit oder ohne Hörrohr) umzuhören. Trotz dem Attribut Kabisland sind die blaugrünen Felder im Gürbetal auf dem Rückzug. Diese Einschätzung stammt von Heinz Zehnder, der seit vielen Jahren in der Sauerkrautfabrik Thurnen als Administrator wirkt. Seit 1917 wird in dieser Produktionsstätte auf genossenschaftlicher Basis Kabis produziert. Wenn der Betrieb auch mehrfach modernisiert wurde, so ist das Grundprinzip doch unverrückbar geblieben. Der maschinell in dünne Streifen geschnittene Weisskohl tropft über Förderbänder ins Kellergeschoss. Dort wird er in überdimensionierte Badewannen verteilt, gestampft, luftdicht abgeschlossen und gepresst. Allein Salz werde beigemengt, versichert Heinz Zehnder. Nun setzt die natürliche Milchsäuregärung ein. Einige Wochen später ist der vergorene Kabis bereit, auf Teller und Platten zu wandern. Das Problem sei, dass es nur bedingt gelinge, neben der traditionellen auch die moderne Küche für das gesundheitsfördernde Sauerkraut zu gewinnen, bedauert Zehnder. An kreativen Vorschlägen fehle es nämlich nicht: Seezungenfilets mit Sauerkraut an Champagnersauce sei sehr empfehlenswert, ebenso Schweinsfilet im Sauerkrautmantel oder Kraut-Pizza. Ein Kränzchen zu winden weiss der Kabis-Administrator aus Thurnen der Romandie. Dort seien die besten Kunden ansässig. Wenn in der Ostschweiz nur halb so viel Sauerkraut konsumiert würde, wäre alles in Butter. Immerhin weiss Zehnder von Liebhabern zu berichten, die übers ganze Land verteilt sind. Die «Züri Chabis Loge» statte dem Gürbetal alle Jahre mitsamt Blaskapelle einen Besuch ab, in der Innerschweiz existiere ein weiterer Fanklub. Freundeidgenössische Kontakte werden auch mit der Genfer «Confrérie des chevaliers de la choucroute» unterhalten. Die Liebe zum Gürbetal geht eben durch den Magen. - Natürlich wird die Gürbetaler Spezialität nicht nur exportiert. Viele Einheimische halten dem Sauerkraut die Treue. Da sich der Kabis mühelos konservieren lässt, kann zur Erntezeit ein Vorrat angelegt werden, der bis in den Frühling hinein den Eigengebrauch abdeckt.

Comeback des Sauerkrauts

Früher war es im Herbst gang und gäbe, dass an den Bahnstationen im Gürbetal emsiges Markttreiben herrschte. Die Bauern fuhren mit ihren Ladewagen vor, auf denen Kabisköpfe gleich Kanonenkugeln aufgeschichtet worden waren. Ein Teil wurde auf die Bahn verfrachtet, um in fernen Fabriken geschnitten zu werden. Gleichzeitig standen Einheimische mit Hobeln bereit, um ihre mitgebrachten Bottiche zu füllen. Dass man nebst dieser Handarbeit noch Zeit fand, allerlei zu besprechen, gehörte zum gemütlichen Ritual des Kabis-Einmachens. Wenn lieb gewordene Traditionen einschlafen, braucht es mitunter Weckrufe. Seit einigen Jahren versuchen findige Gürbetaler, das Comeback des Sauerkrauts zu unterstützen. Besonders ins Zeug legt sich die südwärts von Belp gelegene Gemeinde Toffen. Unter dem Patronat der örtlichen Kabis-Genossenschaft ist die Dorfbevölkerung eingeladen, am ersten Samstag im Oktober ihren Wintervorrat zu komplettieren. Zu den Initianten der Toffner «Chabis-Hoblete» gehört Paul Schär alias «Pole», der als Gletscherpilot oft die Majestäten des Berner Oberlands ansteuert. Seine Devise lautet: Viele Hiesige wollen im Herbst ihren Kabis-Bottich eigenhändig füllen, dies wie anno dazumal, das heisst keinesfalls auf die Schnelle. Wenn man schon Kabis für den ganzen Winter hoble, gehöre es einfach dazu, dass man danach noch gemütlich zusammensitze und über Alltägliches sinniere.

Ansturm auf Toffen

Die Toffner «Chabis-Hoblete» nimmt streng genommen bereits im August ihren Anfang. Es gilt, auf den Feldern frühreife Gewächse zu köpfen. Am Fest im Oktober wird nämlich nicht nur gehobelt, sondern auch frisch eingemachtes Sauerkraut serviert. Der mehrwöchige Gärprozess bedingt den Vorlauf. Dieses Jahr wurden auf dem Hof des fidelen Bauers Wälchli einige hundert Kilogramm bereitgestellt. Zu viel war dies nicht, wie sich am vergangenen Samstag zeigte. Als Hobel-Areal dient in Toffen eine Scheune nahe dem Gasthof, der einen Bären im Wappen trägt. Die für den Aufbau der temporären Festhütte zuständigen Männer verfügen praktisch ausnahmslos über Schwingerposturen und Hände wie Bratpfannen. Sie haben aus Beständen des Zivilschutzes eine mobile Feldküche installiert. Über der Pforte zum Ziegenstall schwebt der Schriftzug «Chabis-Bar». Schon gegen acht Uhr morgens herrscht an den Hobelbänken emsiges Treiben. Erstaunlich, wie fast im Minutentakt Bottiche herangetragen werden. Zehn Liter Kabis fassen die kleinen Fässchen, den vollgepferchten 125-Liter-Behältern ist nur mit dem Gabelstapler beizukommen. Neben den Kabisköpfen geht es auch den wesentlich kleineren Sauerrüben ans Eingemachte. Kleine und grosse Hände hobeln und stampfen (berndeutsch: «schtungge»), als seien sie auserkoren, das Sauerkraut neu zu erfinden. An kreativem Beigemüse mangelt es nicht: Öfters finden Wacholderbeeren Zutritt zum feingeschnittenen Kabis. Ein Habitué schwört auf Zucker, weil erst dieser den Gärprozess rund mache. Auch verschiedene Kräuter gehören zum Arsenal der speziellen Ingredienzen. Jeder Kabis muss wohl auf eigene Weise sauer werden. In der Festwirtschaft ist bereits vor der Mittagsstunde kaum einer der 340 bereitgestellten Sitzplätze mehr frei. Und dies, obschon die Speisekarte übersichtlich gestaltet ist: Nebst einer «gäbigen» Portion Meringue, die der Blüemlisalp Konkurrenz macht, tischen die «Höbeler» Berner Platte auf oder auch nur Sauerkraut nature. Doch gerade deswegen strömen die Leute ja herbei. Die säuerliche Wolke, die über der Scheune hängt, verfehlt ihre Wirkung nicht. «Pole» Schär hat als fliegender Platzanweiser alle Hände voll zu tun. Wohl 1500 Portionen werde man diesmal bis spätabends verkaufen, stöhnt er zufrieden. Der Adressatenkreis, der im nächsten Jahr eine persönliche Einladung wünsche, werde immer voluminöser. Unser Tischnachbar, ein rüstiger Pensionär aus Kehrsatz, wird wohl ebenfalls wieder erscheinen. Im Emmental, wo er aufgewachsen sei, hätten sie früher auch Kabis eingemacht. Es heimele ihn einfach an, dem Treiben beizuwohnen und dazu ein Glas zu trinken. Dass dazu ein Schwyzerörgeli den Takt angibt, stört ihn nicht.

René Zeller Neue Zürcher Zeitung, Ressort Inland, 14. Oktober 2000, Nr.240, Seite 15